Der Brustabszess ist heilbar: Interview zur Abszessbehandlung in der Stillzeit

Claudia Seidel, Stillberaterin
Claudia Seidel, Kinderkrankenschwester, seit 2001 Still- und Laktationsberaterin IBCLC und Stillbeauftragte in einer großen Geburtsklinik in Bremen

Frauen, die während der Stillzeit an einem Brustabszess erkranken, müssen eine langwierige, aufreibende Odyssee durchmachen. Unsere Interviewpartnerin, Claudia Seidel, Still- und Laktationsberaterin IBCLC, Stillbeauftragte in einer großen Geburtsklinik und seit über 30 Jahren in der Stillberatung tätig, schildert die Herausforderungen, welche die Frauen durchmachen müssen; erklärt den Hintergrund der zum Teil widersprüchlichen Vorgehensweisen in der Ärzteschaft und baut betroffene Frauen auf.

Liebe Frau Seidel, was haben die Frauen hinter sich, wenn sie mit einem Abszess zu Ihnen in die Klinik kommen?

Wenn die Frauen zu uns kommen, haben sie sich oft schon über Wochen gequält, fühlen sich schlapp und sind emotional im Keller. Sie haben dann meist schon eine längere Vorgeschichte mit Milchstaus und Brustentzündungen oder stark verletzten Mamillen hinter sich. Sie glauben, es gibt keinen Ausweg mehr. Abszesse können während der ganzen Stillzeit vorkommen, häufig treten sie in den ersten 2–3 Monaten auf. In der Vorgeschichte findet man nicht selten, dass jemand der Frau helfen und den Milchstau ausdrücken wollte und dabei jedoch deutlich über die Schmerzgrenze der Frau gegangen ist. Das erlebe ich oft. Das war zwar sicherlich gut gemeint, verschlimmert aber nur die Situation. Durch den zu starken punktuellen Druck sterben Zellen ab. Sie können eine Basis für einen späteren Abszess bilden. Es bildet sich eine Pseudokapsel, ein mit Eiter gefüllter Hohlraum. Dieser steht nicht in Verbindung mit dem Drüsengewebe und den Milchgängen. Oft erlebe ich auch eine zu späte Antibiose oder eine Antibiotikagabe mit gleichzeitiger Empfehlung zum Abstillen ohne weitere Entleerung der Brust.

Einige der Frauen wollen unbedingt weiterstillen. Das ist ganz wichtig für sie. Andere sind zu diesem Zeitpunkt mit dem Thema Stillen schon durch und möchten abstillen. Ich zeige den Frauen in einem ersten Gespräch mehrere Möglichkeiten auf, gebe ihnen eine Pause zum Überdenken und begleite sie schließlich auf dem Weg, für den sie sich entschieden haben. Wenn sie nicht mehr stillen möchten, leite ich sie zum sanften Abstillen an. Auch wenn die Frau sich zum Abstillen entschlossen hat, ist es wichtig ihr bewusst zu machen, wie wertvoll die Zeit war, in der sie gestillt hat. Sie kann die Flasche in Zukunft auch bindungsorientiert im Körperkontakt geben, ihr Baby tragen, und auf diese Weise den Verlust des Stillens ein Stück weit kompensieren.

Wie wird bei der Behandlung des Abszesses vorgegangen?

Heutzutage ist die Punktion die bevorzugte Behandlungsmethode, wobei eine mehrmalige Punktion die Regel ist. Manchmal ist die Stelle, wo die Entzündung liegt, anfangs noch zu diffus, sodass noch keine Flüssigkeit abgezogen werden kann. Dann wird zunächst eine intravenöse Antibiose durchgeführt – diese wirkt schneller und besser als wenn das Antibiotikum nur eingenommen wird. Durch die Antibiose „kammert“ sich der Abszess „ab“ und die Flüssigkeit lässt sich gut abpunktieren. Bei großen, mehrfach gekammerten Abszessen wird jedoch auch heute noch öfter eine Operation vorgenommen und zur regelmäßigen Spülung eine Lasche (ein Drainagekatheter) gelegt, die über mehrere Tage verbleibt. In unserer Klinik werden die Frauen für die Behandlung eines Brustabszesses für etwa eine knappe Woche stationär aufgenommen, aber an anderen Standorten kommen auch ambulante Behandlungen vor, bei denen die Frauen zur Punktion täglich in die Klinik kommen.

Wie oft wird die Punktion wiederholt?

Das hängt davon ab, wie schnell sich die Abszesshöhle wieder mit Flüssigkeit füllt. In der Regel wird mehrmals punktiert.

Wie kann die Mutter ihr Baby bei einem Brustabszess weiter ernähren?

Wie unter anderem aus der S3-Leitlinie Entzündliche Brusterkrankungen (2013) hervorgeht, ist das Weiterstillen auch bei einem Brustabszess unbedenklich. Nur wenn der Schnitt bei einer chirurgischen Inzision (nicht jedoch bei einer Punktion) zu nah am Brustwarzenhof liegt, sollte das Baby an der betroffenen Brust nicht weitergestillt werden. Dann sollte die betroffene Brust vorübergehend per Hand entleert werden. Dazu braucht die Mutter natürlich eine Anleitung. Die Handentleerung funktioniert in diesen Fällen oft besser als Pumpen, weil die Absaughaube der Pumpe manchmal genau da ansetzt, wo der Schnitt ist. Da ist die Entleerung per Hand für die Frau viel angenehmer als mit der Pumpe.

Auch wenn die Frau abstillen will, sollte die Brust zunächst weiter entleert werden. An der Seite, wo sie den Abszess hat, muss man schauen, ob sie besser anlegt oder ob es ihr lieber ist zu pumpen oder per Hand zu entleeren – auch in Abhängigkeit von der Vorgehensweise der Ärzte. Zum Abstillen sollte sie immer seltener und kürzer anlegen oder pumpen, die Brust kühlen und die Milchmenge so langsam reduzieren. Im besten Fall lässt sie sich einige Tage Zeit dafür.

Wenn der Abszess nicht zu raumgreifend ist und die Frau nicht zu sehr beeinträchtigt, würde ich die Frau grundsätzlich zum Weiterstillen ermutigen. Selbst wenn die Milchbildung an der betroffenen Seite zurückgeht oder das Baby die betroffene Brust aufgrund des veränderten, salzigen (durch die Entzündung natriumreichen) Muttermilchgeschmacks vorübergehend nicht so gerne nehmen sollte – was eher selten vorkommt –, und mit Flasche zugefüttert werden muss, lässt sich nach der Genesung die Milchbildung meist wieder steigern und das Stillen auch an der betroffenen Brust fortsetzen.

Wie erleben Sie die Einstellung der Ärzte?

Sehr unterschiedlich. Nach meiner Erfahrung gibt es noch Frauenärzte, die sehr schnell zum Abstillen raten: Sie verschreiben der Frau das Abstillmedikament zusammen mit der Antibiose, raten dazu, gar nicht mehr anzulegen, obwohl man heute weiß, dass gerade bei einer Brustentzündung oder einem Abszess ein weiteres Entleeren der Brust für die Heilung sehr wichtig ist. In unserer Klinik hingegen ist man dem Weiterstillen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt. Man geht davon aus, dass die Frauen weiterstillen möchten.

Es wäre wünschenswert, dass zwischen Stillfachleuten und niedergelassenen Ärzten Netzwerke entstehen. Frauen, die z.B. ambulant zu mir kommen, erhalten einen schriftlichen Bericht mit meiner Einschätzung und meinen Empfehlungen für ihren niedergelassenen Frauenarzt. Manche Frauenärzte suchen den Kontakt zu mir und wollen auch meine Meinung hören. Sie sind offen für meine Vorschläge. Es gibt aber auch einige Niedergelassene, die wenig erfreut sind, wenn man ihnen eine Empfehlung mitgibt. Es müssten in diesem Bereich viel mehr Schulungen stattfinden – sowohl für niedergelassene als auch für Klinikärzte.

Aus welchen Gründen raten Ärzte zum Abstillen?

Es gibt noch viel Unsicherheit seitens der Ärzte. Sie haben Bedenken, dass das Baby neben der Milch auch Eiter aus einer Verbindung zum Abszess trinken und ebenfalls erkranken könnte. In der Regel gibt es jedoch keine Verbindung zwischen Abszess und Milchkanal, sodass auch an der erkrankten Seite weiter gestillt, bzw. die abgepumpte Muttermilch gefüttert werden darf. Ich versuche die Bedenken der Ärzte zu zerstreuen und nehme zu anderen Ärzten, welche die Ausbildung zur Still- und Laktationsberaterin IBCLC absolviert haben, Kontakt auf und versuche zu erreichen, dass sie sich untereinander austauschen.

Ein weiterer Grund für die Abstillempfehlung ist die Überlegung, dass der Abszess dadurch besser heilt. Man kann aber diesen „Hahn“– also die Milchbildung – ohnehin nicht einfach „zudrehen“, selbst mit Medikamenten nicht: Es dauert mindestens zwei bis drei Wochen, bis die Brust nicht mehr laktiert, in manchen Fällen deutlich länger. Die Brust sollte während der Behandlung daher weiter entleert werden: entweder durch Anlegen oder durch Pumpen/Handentleeren.

Eine weitere Sorge ist die Entstehung einer Fistel, also einer dauerhaft bestehenden Verbindung nach außen. Das ist eine sehr-sehr seltene Komplikation, die ich in meiner Stillberatungstätigkeit noch nicht erlebt habe. Ich habe aber gelesen, dass die Fistel spätestens mit dem Abstillen wieder zuwächst. Es stimmt schon, dass aus der Wunde, wo punktiert wurde, noch Wundflüssigkeit und auch Muttermilch heraustreten können. Schließlich liegt alles sehr eng zusammen und es können natürlich auch Milchgänge verletzt werden. Aber das ist nichts Schlimmes, im Gegenteil, der Heilungsverlauf wird durch die Muttermilch positiv beeinflusst.

Man sollte bei Empfehlungen zum Abstillen immer bedenken, dass einige Frauen heutzutage nicht zwei Monate, sondern viel länger stillen: oft ein Jahr und darüber hinaus. Es ist schade, wenn sie aufgrund des Abszesses bereits nach so kurzer Zeit abstillen müssen. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt sechs Monate ausschließliches Stillen und unter geeigneter Beikost Weiterstillen bis zum Alter von zwei Jahren und darüber hinaus.

Ich persönlich stelle mich am Ende immer hinter die gemeinsame Entscheidung: Wenn ein Arzt sagt, die Frau sollte abstillen, dann stelle ich mich dahinter. Das ist meines Erachtens wichtig, damit die Frau keine widersprüchlichen Empfehlungen erhält, welche sie nur verunsichern.

Schon öfter habe ich Frauen erlebt, die der Empfehlung der Ärzte, abzustillen, gefolgt sind, auch wenn sie ursprünglich gar nicht abstillen wollten. Sie fahren ihre Milchproduktion dann auch mithilfe von Medikamenten herunter. Eine dieser Frauen kontaktierte mich etwa eine Woche nach der Entlassung und fing wieder an anzulegen. Sie bekam ihre Milchbildung wieder in Gang und stillte dann noch mehrere Monate voll. Sie stillt jetzt ihr zweites Kind erfolgreich und hat dabei keinen weiteren Abszess bekommen. Mütter machen zum Glück oft noch das, was ihr Gefühl ihnen sagt. Wenn sie merken, dass das Kind immer noch Interesse hat und die Brust schon wieder ganz gut ausgeheilt ist, dann haben sie den Mut, das Stillen wieder aufzunehmen.

Welche Empfehlungen möchten Sie betroffenen Frauen noch mitgeben?

Ideal wäre es einen Arzt / eine Ärztin zu finden, die die Fortbildung zur Still- und Laktationsberaterin IBCLC absolviert hat. Das ist aber sicherlich nicht so einfach. Hat die Frau sich bereits in eine Klinik begeben, dann sollte sie sich der behandelnden Ärztin anvertrauen. Es ist dann schwierig, sich eine Zweitmeinung einzuholen. Die Frau kann nach Möglichkeit ein Babyfreundliches Krankenhaus aufsuchen. Man kann davon ausgehen, dass die Ärzte dort im Bereich Brustabszess gut geschult sind und „stillfreundlich“ vorgehen.

Außerdem möchte ich die Frauen dazu ermuntern, das Stillen nicht aufzugeben, wenn es ihnen noch weiterhin wichtig ist. Wenn die Frau noch Kraft und Mut hat, dann kann sie ihre Milchbildung häufig wieder aufbauen, selbst wenn sie vorübergehend abgestillt oder ergänzend Flaschennahrung gefüttert hat. Ein Abszess ist behandelbar und kann überwunden werden. Es besteht die Aussicht auf weitere schöne, erfolgreiche Stillmonate.

Liebe Frau Seidel, vielen Dank für das Interview.

Frau Claudia Seidel bietet in Bremen ambulante Stillberatung in der Stillsprechstunde und den Stillgruppen des St. Josef Krankenhauses sowie private Hausbesuche an.


© Dr. Bauer – Publikationen in der Stillförderung. Text, Bilder und Videos urheberrechtlich geschützt. Das Interview ist im Mai 2017 aufgenommen worden.


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