WHO/UNICEF-Initiative BABYFREUNDLICH

Förderung eines guten Stillstarts und der Eltern-Kind-Bindung in Geburts- und Kinderkliniken

In der Reihe „Who is who in der Stillförderung“ werden die wichtigsten Berufsgruppen und Organisationen in der Stillförderung nach und nach vorgestellt, um den Müttern eine Orientierung zu bieten. Im folgenden Interview geht es um die WHO/UNICEF-Initiative BABYFREUNDLICH.

Foto von Vera Hesels, Geschäftsführerin des Vereins zur Unterstützung der WHO/UNICEF-Initiative Babyfreundlich
Vera Hesels, Geschäftsführerin des Vereins zur Unterstützung der WHO/UNICEF-Initiative

Ziel der Initiative ist es, die internationalen Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) im Bereich Stillen und Eltern-Kind-Bindung in Geburts-, Kinder- und Perinatalkliniken umzusetzen. Kliniken, welche die Anforderungen von WHO und UNICEF nachweislich erfüllen, erhalten das Zertifikat BABYFREUNDLICH, welches alle drei Jahre erneuert werden muss. Derzeit sind in Deutschland 100 Geburtskliniken als babyfreundlich zertifiziert, fünf Kinderkliniken haben das Zertifikat ebenfalls erlangt. Die Fragen zur WHO/UNICEF-Initiative BABYFREUNDLICH beantwortet Vera Hesels, seit 2017 Geschäftsführerin des Vereins.

Liebe Frau Hesels, in den als babyfreundlich zertifizierten Geburtskliniken bekommen rund 84% der gestillten Neugeborenen bis zur Entlassung ausschließlich Muttermilch, rund drei Viertel werden ausschließlich gestillt, sind also nur an der Brust. Wie schaffen sie das? Was machen die Kliniken anders als Geburtskliniken ohne Zertifizierung?

Abbildung des Qualitätssiegels
Kliniken, welche die 10 Schritte zur babyfreundlichen Einrichtung von WHO und UNICEF nachweislich umsetzen, erhalten das Qualitätssiegel „Babyfreundlich“.

Zertifizierte Kliniken haben auf der Grundlage der „Zehn Schritte zum erfolgreichen Stillen von WHO/UNICEF“ ihre Richtlinien und Abläufe optimiert. Diese sind so konzipiert, dass sie Müttern und Kindern einen rundum guten Start ermöglichen. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei, dass alle Mitarbeitenden umfassend geschult und regelmäßig fortgebildet werden. So können die Teams in babyfreundlichen Kliniken gut abgestimmt arbeiten – sie arbeiten Hand in Hand und sprechen sozusagen mit einer Stimme. So erhalten die Mütter von den verschiedenen Mitarbeitenden die gleichen Informationen.

Eine Stillberaterin einer Babyfreundlichen Geburtsklinik hilft einer Mutter beim Anlegen ihres Babys
Liebevolle praktische Hilfe beim Anlegen (© WHO/UNICEF-Initiative)

Das Personal unterstützt die Mütter dabei, ihr Baby entspannt anzulegen und die Milchbildung gut in Gang zu bringen. Dazu gehört auch, den Müttern zu zeigen, wie sie von Hand Muttermilch gewinnen können. Damit können die Mütter in den ersten Tagen Kolostrum gewinnen, falls ihr Baby noch nicht kräftig genug trinken kann. Später können die Mütter jederzeit und überall Milch gewinnen, wenn einfach mal nötig ist, unabhängig von technischen Hilfsmitteln.

Was geschieht in der ersten Stunde nach der Geburt in babyfreundlichen Kliniken?

Neugeborenes liegt in einem Babyfreundlichen Krankenhaus auf der Brust der Mutter in Haut-zu-Haut-Kontakt
In babyfreundlichen Kliniken wird nach der Geburt ausgiebiger, ungestörter Haut-zu-Haut-Kontakt praktiziert, um die Bindung und das Stillen zu fördern. (© Kati Finell)

Das Baby kommt direkt zu der Mutter in den Hautkontakt und bleibt dort auch ungestört liegen ‒ mindestens eine Stunde lang oder bis zum ersten Stillen. Dieser ungestörte Haut-zu-Haut-Kontakt fördert die Beziehung und Bindung zwischen Mutter und Kind, ermöglicht das erste Stillen unmittelbar nach der Geburt und regt so auch die Milchbildung an. Bei manchen Neugeborenen ist zunächst eine medizinische Erstversorgung nötig. Diese Babys kommen danach bzw. sobald wie möglich in Hautkontakt.

Auch das Verlegen aus dem Kreißsaal auf die Wöchnerinnen-Station findet in babyfreundlichen Kliniken im Hautkontakt statt. Das Kind wird nicht von der Mutter getrennt, sondern bleibt zugedeckt bei ihr auf der Brust oder dem Bauch und wird zusammen mit ihr auf die Wöchnerinnenstation verlegt. Unsere Kliniken schaffen so im Pflegealltag Möglichkeiten, damit sich die Bindung zwischen Mutter und Kind entfalten kann: Unsere Kliniken geben der Liebe Raum.

Wie sieht es nach einem Kaiserschnitt aus?

Neugeborenes Baby liegt in einer babyfreundlichen Geburtsklinik an der Brust der Mutter - alle sind in grüner OP-Kleidung nach Kaiserschnitt
Auch nach einem Kaiserschnitt kommt das Baby gleich in Hautkontakt mit der Mutter. (© Gabriele Kussmann)

Bei einem Kaiserschnitt in Regionalanästhesie wird grundsätzlich genauso vorgegangen wie nach einer vaginalen Geburt: Das Neugeborene kommt sofort in Hautkontakt mit der Mutter  und bleibt dort, bis die OP beendet ist (sog. Sectio-Bonding). Anschließend werden Mutter und Kind gemeinsam in den Kreißsaal verlegt und von dort auf die Wochenstation – es sei denn, dass das Neugeborene in die Kinderklinik verlegt werden müsste. Das heißt, dass im überwiegenden Normalfall Mutter und Neugeborenes nicht getrennt werden. Das macht natürlich für alle Beteiligten einen großen Unterschied. Die Mutter ist viel ruhiger und hat ein ganz anderes Schmerz- und Zeitempfinden, wenn ihr Baby bei ihr ist. Auch das Baby ist bei der Mutter viel ruhiger, seine Atmung und sein Herzschlag stabilisieren sich. Alle gewinnen!

An vielen Geburtskliniken ohne Zertifizierung werden Babys zugefüttert, mitunter sogar ohne die explizite Zustimmung der Eltern. Wie gehen in dieser Hinsicht die babyfreundlichen Kliniken vor?

In unseren Häusern werden Neugeborene nur mit medizinischer Indikation zugefüttert – es sei denn, auf den ausdrücklichen Wunsch der Mutter. Babyfreundliche Kliniken achten darauf, dass die Neugeborenen oft gestillt werden und dass bei Bedarf Kolostrum gewonnen und gefüttert wird. Deshalb ist das Zufüttern von künstlicher Säuglingsnahrung nur selten nötig.

Gibt es in den zertifizierten Häusern noch Schnuller?

Nein, babyfreundliche Geburtskliniken halten keine Schnuller vor. Sie sehen ihre Aufgabe darin, die Eltern über die damit verbundenen Risiken zu informieren und ihnen Alternativen aufzuzeigen. Die Eltern entscheiden dann selbst, ob sie ihrem Neugeborenen einen Schnuller anbieten wollen, und bringen ihn ggf. auch selbst in die Klinik mit.

Babyfreundliche Kliniken waren Vorreiter im Bereich des „Rooming-in“. Warum ist „24-Stunden-Rooming-in“ so wichtig?

Kleines Baby liegt bei der Mutter auf der Brust
In babyfreundlichen Kliniken können Mutter und Kind rund um die Uhr zusammenbleiben. (© Vladimir Sidorovich)

„24-Stunden-Rooming in“ heißt, dass Mutter und Neugeborenes rund um die Uhr zusammenbleiben. Das hat für beide eine große Bedeutung für das Kennenlernen und die Bindung. Das Neugeborene braucht die vertraute Nähe der Mutter, um sich sicher zu fühlen und um sich gut an das Leben außerhalb der Gebärmutter anpassen zu können. Auch der Mutter fällt die Umstellung leichter, wenn das Baby bei ihr ist. Die Nähe ermöglicht häufiges Stillen nach Bedarf. Das begünstigt den Aufbau einer reichlichen Milchbildung und einen guten Start in eine entspannte Stillzeit.

Gibt es noch weitere Besonderheiten von babyfreundlichen Kliniken?

Ja, zum Schutz von Mutter und Kind und um das Stillen bestmöglich zu unterstützen, sind unsere Kliniken alle komplett unabhängig von der Industrie, denn sie halten den WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten konsequent ein. Das heißt, eine Beeinflussung durch die Industrie findet schlicht nicht statt. Unsere Empfehlungen sind unabhängig.

Ist das nicht selbstverständlich?

Nein. An anderen Kliniken erlebt man oft das Gegenteil. Dort werden Fortbildungen für das Personal häufig durch die Säuglingsnahrungsindustrie finanziert. Mütter erhalten Geschenkpackungen von den Firmen, Werbung für die Säuglingsnahrung findet sich z.B. in den ausliegenden Elterninformationen. Latente Werbung findet sich auf Bettkärtchen, Plakaten, Kalendern, Kugelschreibern… sie ist praktisch überall präsent. Viele Eltern gehen ja davon aus, dass Produkte, welche in den Kliniken verwendet werden, medizinisch besonders gut geprüft und vertrauenswürdig sein müssen. Daher ist eine solche Einflussnahme in den Kliniken so riskant. In babyfreundlichen Kliniken hat man die Sicherheit, dass solche Praktiken verboten sind und dies streng kontrolliert wird.

Gibt es einen Unterschied in Bezug auf die Geburt?

Über die bindungs- und stillfreundlichen Vorgehensweisen in der ersten Stunde nach der Geburt hatten wir bereits gesprochen. Da die Erfahrungen der Mütter unter der Geburt sowohl Bindung und Stillen und auch die körperliche und seelische Gesundheit der Mutter erheblich beeinflussen, ist es wichtig, die Geburt selbst verstärkt in den Blick zu nehmen. Im babyfreundlichen Konzept ist verankert, auf eventuelle negative Auswirkungen von Medikamenten unter der Geburt zu achten und sie zu minimieren.

Wie steht es um die Zufriedenheit der Mütter in babyfreundlichen Kliniken?

Wir führen bei der Erstzertifizierung und anschließend alle drei Jahre im Laufe der Rezertifizierung Interviews mit ein bis zwei Dutzend Müttern, die auf der Station liegen bzw. vor Kurzem dort entbunden haben. Bei diesen Zertifizierungsaudits fällt es immer wieder auf, wie glücklich die befragten Frauen mit der Betreuung sind und dass sie sich bereits mit ihrer Klinik identifizieren. Externe Studien und Befragungen zeigen außerdem, dass die Zufriedenheit der Mütter in babyfreundlichen Kliniken überdurchschnittlich ist. Das liegt sicher auch daran, dass die Frauen dort viel häufiger mit ihren Babys in Hautkontakt sind, häufiger direkt anlegen und gute Information und praktische Hilfe bekommen.

Was bieten babyfreundliche Kliniken den Müttern nach der Klinikentlassung?

Foto einer Stillgruppe mit Müttern, die ihre Babys auf dem Arm halten und sich unterhalten
Stilltreffen (© WHO/UNICEF-Initiative)

Alle unsere Häuser haben „Danach“-Angebote, also eine Weiterbetreuung interessierter Mütter in Form von Stillcafés oder Eltern-Kind-Gruppen. Einige Häuser haben auch eine Stillambulanz. Abhängig von den personellen Möglichkeiten vor Ort helfen die diensthabenden Mitarbeiterinnen grundsätzlich, wenn eine Mutter nach der Entlassung mit einem Stillproblem vorbeikommt.

Sind die Danach-Angebote auch für Mütter offen, die nicht dort entbunden haben?

Auch eine Mutter, die extern entbunden hat, kann zu uns in die Stillgruppen kommen. Die Stillgruppen sind auf jeden Fall für alle offen.

Liebe Frau Hesels, vielen Dank für das Interview!


Das Interview wurde im Oktober 2019 aufgenommen, im Februar 2020 fertiggestellt und im März 2020 freigegeben.

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