Wie geht man damit um, wenn die anderen schon früher abgestillt haben?

Spielgruppe: Zwei Mütter spielen mit ihren Kleinkindern in einem öffentlichen Raum
Was, wenn alle anderen schon abgestillt haben? (© Oksana Kuzmine)

Einer der wichtigsten Gründe, warum eigentlich erfolgreich stillende Frauen bereits vor dem 1. Geburtstag oder kurz danach abstillen, ist, dass sie es nicht anders kennen. Niemand hat in ihrer Familie oder in ihrem Bekanntenkreis länger als ein Jahr gestillt – auch in der Öffentlichkeit haben sie noch keine gestillten Kleinkinder erlebt. Wenn doch, dann kam es ihnen sonderbar vor: Etwas, was sie eher nicht nachahmen wollten.

Aber was, wenn das eigene Kind so gerne weitergestillt werden möchte? Wenn man erfährt, dass längeres Stillen für Mutter und Kind eigentlich gesund ist, viele Vorteile hat und auch von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen wird? Wie rechtfertigt man anderen Müttern gegenüber, dass man länger stillt, ohne diese vor den Kopf zu stoßen? Schließlich muss dann jemand etwas falsch gemacht haben: Entweder diejenige, die länger stillt, oder diejenige, die schon früh abgestillt hat. Oder?

Der Konformitätswunsch, also der Wunsch, nach den Normen und Werten der Gemeinschaft zu leben, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Man möchte nicht anders sein, man möchte keine Konflikte heraufbeschwören.

Was hilft, Konkurrenz und schlechtes Gewissen zu vermeiden

Jede Familie, jede Mutter, jedes Kind ist anders. Was für die eine Familie der richtige Weg ist, kommt für eine andere Familie nicht in Frage. Auch Geschwisterkinder sind ganz unterschiedlich. Selbst bei Zwillingen kommt es vor, dass der eine Zwilling am liebsten mit Schnuller im eigenen Bett einschläft, während der andere unbedingt die Mama braucht und von ihr in den Schlaf gestillt werden möchte. Auch die Lebenssituation jeder Familie ist anders. Wie lange man stillt, hängt von unzähligen Faktoren ab, u.a. vom Geburtsverlauf, vom Wochenbett, von der Unterstützung durch Fachpersonen, die Familie und das Umfeld, und auch von den Normen, die man vorgelebt bekommt. Es kommt häufig vor, dass eine Mutter ihre ersten Kinder gar nicht oder kurz stillt, die jüngeren Geschwisterkinder jedoch deutlich länger. Manchmal ist es genau umgekehrt.

Es hilft sich vor Augen zu führen, dass in Deutschland aktuell etwa 16% der Kinder länger als 12 Monate gestillt werden, 83% werden kürzer gestillt (Brettschneider et al., 2018). Früher waren Kinder, die länger gestillt wurden, noch deutlich seltener. Es gibt kein Richtig und Falsch, sondern unterschiedliche Lebenswege, die für die jeweilige Familie in der jeweiligen Situation zum jeweiligen Zeitpunkt der Richtige ist: „Es fühlt sich für mich richtig an, mein Kind weiterhin zu stillen. Für Euch war es richtig, kürzer zu stillen, bestimmt hätte ich in Deiner Situation auch in dem Alter abgestillt.“ „Wir gehören zu den 16%, die länger stillen, Ihr zu den 83%, die früher abgestillt haben. Beides ist in Ordnung“. Diese Einstellungen helfen, mit Anderssein ohne Konkurrenz umzugehen.

Gleichgesinnte suchen

Man fühlt sich schnell isoliert, wenn man im persönlichen Umfeld die Einzige ist, die ihr Kind länger stillt. Frau braucht auch in dieser Situation seelische Unterstützung und Austausch. Schließlich hat längeres Stillen seine ganz eigenen Fragestellungen und Herausforderungen. In Stillgruppen finden sich so gut wie immer Mütter, die länger stillen, in einigen Regionen gibt es auch extra Stillgruppen für länger stillende Mütter, in letzter Zeit entstehen auch zunehmend online-Stillgruppen. Schließlich organisieren sich länger stillende Mütter in den sozialen Medien ihre eigenen Austauschgruppen.

Kleinkind-Stillen und Privatsphäre

Zweijähriges Mädchen mit Puppe auf dem Arm trinkt an der Brust ihrer Mutter in einem öffentlichen Park
Ob auch in der Öffentlichkeit oder nur daheim: eine persönliche Entscheidung (© Vasilis Ververidis)

Zum Ende des ersten Lebensjahres fordern Babys die Brust zunehmend aktiv ein: Sie tätscheln die Brust, ziehen das T-Shirt der Mutter hoch, usw. Manche Mütter sind überrascht und irritiert, andere amüsieren sich und finden dieses Verhalten liebenswürdig: Ein Entwicklungsschritt Richtung Autonomie. Nicht viel später entsteht eine eigene Bezeichnung für die Brust, welche zu den ersten Wörtern des Kleinkindes gehören wird. Unter diesen Umständen ist es nicht einfach in der Öffentlichkeit oder vor der Familie / im Bekanntenkreis zu verheimlichen, wenn die Mutter ihr Kleinkind weiterhin stillt. Manche Mütter empfinden diese Situation unangenehm, andere vermitteln gerne, dass das Stillen von Kleinkindern etwas ganz Natürliches und Schönes ist. Viele Frauen haben gemischte Gefühle.

Um mehr Privatsphäre zu ermöglichen, kann für Stillen ein Codewort gewählt werden, das nur die engste Familie kennt und nicht offenkundig ist. So können Mutter und Kind auch in der Öffentlichkeit über Stillen verhandeln, ohne dass andere unbedingt nachvollziehen können, worum es geht. Außerdem können Kinder mit zunehmender Entwicklung lernen, dass nur noch im Privaten gestillt wird. Sie können warten, bis ein abgeschiedener Ort gefunden wird bzw. die Familie wieder zu Hause ist. So muss sich die Familie nicht immer Gedanken darüber machen, was andere wohl denken oder sagen werden. Irgendwann ist Stillen kein Thema mehr, niemand fragt danach. So können Mutter und Kind das Weiterstillen noch lange genießen, ohne dass sie sich erklären müssten.

Fachliteratur:

  • Brettschneider AK, von der Lippe E, Lange C: Stillverhalten in Deutschland – Neues aus KiGGS Welle 2. Bundesgesundheitsbl 2018;61:920–925.

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