In vielen Fachbüchern und Elternratgebern zum Thema Stillen werden bei Babys Wachstumsschübe zu verschiedenen Zeitpunkten beschrieben (z.B. Huggins, 1999; Wiessinger et al. 2010, Lauwers & Swisher, 2016). In diesen Phasen soll das Baby besonders häufig gestillt werden wollen, um seinen gestiegenen Energiebedarf zu decken.
In einem anerkannten deutschen Stillratgeber von 2004 stand z.B. Folgendes:
„Ihr Baby wächst nicht gleichmäßig, sondern in Schüben. Auf eine Phase langsamen Wachstums folgt eine kurze Phase sehr schnellen Wachstums. Da Ihr Baby in diesen Schüben mehr Nahrung braucht, meldet es sich öfter zum Trinken – zumeist, wenn Sie meinen, jetzt hätte sich endlich ein Rhythmus eingependelt“ (Guóth-Gumberger & Hormann, 2004, S. 60).
In ihrem Buch „Gewichtsverlauf und Stillen“ (2011) stellt Guóth-Gumberger die Existenz von Wachstumsschüben jedoch wieder in Frage. Sie argumentiert damit, dass die WHO-Wachstumskurven von 2006, die anhand von 8000 gestillten Babys aus 6 Ländern entstanden sind, keine Wachstumssprünge zeigen. Anhand der Studienergebnisse der WHO nehmen Babys innerhalb enger Perzentilenkanäle stetig zu. Auch bei individuellen Gewichtskurven lassen sich keine Sprünge feststellen, sondern die Babys wachsen stetig entlang ihrer Perzentilenkurven. Lediglich, wenn die Gewichtsentwicklung bei Krankheiten oder einem ungünstigen Stillmanagement nicht optimal verläuft, lässt sich nach der Besserung der Situation ein schnelles Aufholwachstum beobachten.
Mehrere aktuelle und umfassende Stillfachbücher erwähnen Wachstumsschübe nicht mehr (z.B. Walker, 2016 und Lawrence & Lawrence, 2016). In wissenschaftlichen Literaturdatenbanken findet man zu Wachstumsschüben im Säuglingsalter ebenfalls keine Treffer und man sucht auch vergeblich nach wissenschaftlich fundierten Quellenangaben, wenn über Wachstumsschübe berichtet wird. Somit erhärtet sich der Verdacht, dass Wachstumsschübe tatsächlich nur ein verbreitetes Mythos sind. Interessanterweise wird das Alter, in dem sich Wachstumsschübe ereignen sollen, in den verschiedenen Büchern zum Teil uneinheitlich angegeben.
Zum Teil uneinheitliche Angaben für den Zeitpunkt der Wachstumsschübe | |||
Huggins, 1999 | Guóth-Gumberger &, Hormann, 2004 | Wiessinger, West & Pitman, 2010 | Lauwers & Swisher, 2016 |
7.-14. Tag | 10-14. Tag | ||
2.-3. Woche | 3. Woche | ||
6. Woche | 4-6 Woche | 6. Woche | 3.-6. Woche |
3-4. Monat | 3. Monat | 3. Monat | |
6. Monat | 6. Monat |
Das eigentlich plausible Konzept der Wachstumsschübe ist dabei äußerst hilfreich, wenn Mütter sich wegen einem veränderten Stillrhythmus sorgen machen. Dieser Erklärungsversuch kann nämlich Mütter davor bewahren, dass sie aus lauter Sorge vor zu wenig Milch zur Flasche greifen.
Wenn Wachstumsschübe nicht existieren, woran liegt es sonst, dass die Trinkhäufigkeit und der Appetit von Säuglingen von Tag zu Tag stark schwanken kann? Wir haben zurzeit keine sichere Antwort auf diese Frage und können nur spekulieren. Wahrscheinlich können verschiedene körperliche wie seelische Ursachen hinter diesen Appetit-Schwankungen liegen, wie (auch leichtere) Infektionen, Zahnungsbeschwerden, Veränderungen im Familienleben (z.B. Besuche, Ausflüge, Urlaub, An- und Abwesenheit von Familienangehörigen, Streit usw.), Entwicklungssprünge oder Reizmangel / Reizüberflutung. Vielleicht trinkt das Baby bei einer Erkältung oder einem Darm-Infekt vorübergehend weniger und holt die Trinkmenge bei Genesung wieder nach. Zu anderen Zeitpunkten ist es vielleicht zu sehr abgelenkt, um ausgiebig zu trinken und holt die verpassten Mahlzeiten später wieder nach. Stillen ist im Säuglings- und Kleinkindalter das wichtigste Mittel zur Selbstregulation. Es hilft dem Baby bei Schmerzen, Unwohlsein und belastenden seelischen Situationen sich wieder wohl zu fühlen. Das Baby kann bei jeder Stillmahlzeit Nähe und Geborgenheit auftanken.
Wenn das Baby nicht nach einem starren Zeitplan, sondern rund um die Uhr flexibel, ohne Mindestabstände gestillt wird, dann fallen solche Schwankungen viel weniger auf und es wird sichergestellt, dass das Baby gut mit Muttermilch versorgt wird.
Referenzen:
- Guóth-Gumberger M, Hormann E: Stillen: So versorgen Sie Ihr Baby rundum gut, 2004, S. 60
- Guóth-Gumberger M: Gewichtsverlauf und Stillen: Dokumentieren, Beurteilen, Begleiten, Mabuse Verlag, 2011. S. 36 und 106
- Huggins K: The Nursing Mother´s Companion. 4. Aufl. 1999. S. 127-128.
- Kent CK: Breastfeeding expectations. Infant 2015;11(3):78-82:
- Lauwers J, Swisher A: Counseling the Nursind Mother. A Lactation Consultant´s Guide. Jones & Bartlett Learning, 6. Aufl. 2016. S. 376
- Lawrence RA, Lawrence RM: Breastfeeding. A Guide for the Medical Profession. Elsevier.2016, 8. Aufl.
- Walker M: Breastfeeding Management for the Physician. Using the Evidence. Jones & Bartlett Learning, 4.
- Wiessinger D, West D, Pitman T: The womanly art of breastfeeding, 2010, S. 250
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Hallo Gast,
Danke für Ihre interessante Anmerkung! In der Tat gibt es keine Beweise dafür, dass es die Wachstumsschübe nicht gibt. Auf der anderen Seite gibt es auch keine wissenschaftlich fundierten Hinweise auf ihre Existenz. Insofern handelt es sich um ein interessantes Konzept, das allerdings nicht bewiesen ist.
Wenn diese Wachstumsschübe bei allen Kindern zu gleichen Zeitpunkten auftreten würden, es also „typische Zeitpunkte“ für sie geben würde, dann würde man sie anhand der WHO-Gewichtskurven erkennen, das ist aber nicht der Fall. Das heißt, Wachstumsschübe zu „typischen Zeitpunkten“ sind sehr unwahrscheinlich.
Sprünge im Gewichtsverlauf konnten ohne klare Ursachen (wie eine Optimierung des Stillmanagements) auch bei individuellen Gewichtskurven nicht beobachtet werden.
Ich hatte die Wachstümsschübe immer eher so verstanden, dass sie mental/psychisch gemeint sind und gar nicht physisch, also auf Gewicht und Größe bezogen. Also, dass die Babys in dieser Phase geistig einen Sprung machen und danach sich eventuell auch anders Verhalten bzw wieder etwas Neues können, beherrschen? Aber verwirrend sind tatsächlich verschiedene Angaben an Zeitpunkten für die Wachstumsschübe.
Liebe Antje,
das ist gut möglich. Vielleicht sind es Entwicklungssprünge in der mentalen, psychischen oder motorischen Entwicklung, bei denen die Kleinen besonders viel Geborgenheit und Rückversicherung an der Brust brauchen.