Relaktation ist oft möglich: Expertinnen im Interview

Dr. med. Alexandra Glaß
Gynäkologin, Still- und Lak-tationsberaterin IBCLC und 2. Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher LaktationsberaterInnen e.V.
Anja Lohmeier
Hebamme, Still- und Laktationsberaterin IBCLC und Stillbeauftragte des Hebammenverbands Niedersachsen e.V.

Nicht immer erhalten Mütter die Informationen und Unterstützung, die sie brauchen, um eine erfolgreiche Stillbeziehung zu etablieren. Die Trauer über die viel zu kurze Stilldauer kann die Mütter lange beschäftigen. Es gibt aber Wege, zum (vollen) Stillen zurückzukehren. Im folgenden Interview sprechen Gynäkologin Dr. med. Alexandra Glaß und Hebamme Anja Lohmeier – beide Still- und Laktationsberaterinnen IBCLC – über die Erfolgschancen und Herausforderungen einer Relaktation.

Liebe Frau Glaß, liebe Frau Lohmeier,

Wie vielen Müttern haben Sie bislang bei der Relaktation schätzungsweise geholfen?

Anja Lohmeier: In den letzten 4 Jahren – ich arbeite seit 4 Jahren als Hebamme – werden es ungefähr 15 Frauen gewesen sein. Alexandra Glaß: Auch bei mir waren es etwa 15 Fälle in den letzten 5 Jahren, also etwa 3 Fälle pro Jahr.

Können Sie ein paar typische Hintergründe nennen? Wie kommt es, dass Mütter ihre Babys nicht mehr stillen und sich zu einer Relaktation entscheiden?

Mutter füttert ihr Baby mit der Flasche auf dem Spielplatz
„Aus einer Flasche wurden rasch zwei, drei, vier, fünf, sechs – bis sie dann realisiert hat, dass sie eigentlich gar nicht mehr stillt.” (© Ocskay Bence Mor)

Lohmeier: Die meisten Frauen haben am Anfang gestillt, aber dann hat es im Verlauf der Stillzeit irgendeine Entwicklung gegeben, die dazu führte, dass das Baby nicht mehr oder sehr viel weniger gestillt wurde und die Milchmenge zurückging. Die Frauen sind sehr, sehr traurig darüber und möchten einen Weg finden, wieder voll stillen zu können. Bei einer Frau in meiner Betreuung musste das Kind in die Kinderklinik, wo sie es trotz ihres ausdrücklichen und wiederholten Wunsches, es häufig anzulegen, nur alle 4 Stunden stillen durfte. Die Milchmenge ging zurück und die Mutter musste zufüttern. Nachdem sie bei mir gelandet war, hat es noch einige Monate gedauert, bis sie voll stillen konnte, aber sie hat es geschafft und ich weiß, dass sie ihr Kind, das mittlerweile schon über zwei Jahre alt ist, immer noch stillt. Eine andere Frau, an die ich mich noch gut erinnere, hat angefangen, ihrem Baby in der Öffentlichkeit die Flasche zu geben. Sie wollte nicht, dass alle gucken, wie sie ihre Brust auspackt. Aus der einen Flasche wurden rasch zwei, drei, vier, fünf, sechs – bis sie dann realisiert hat, dass sie eigentlich gar nicht mehr stillt: Es kam gar keine Milch mehr, wenn sie versuchte Milch von Hand oder mit der Pumpe zu gewinnen. Sie war sehr traurig darüber und hat sich Vorwürfe gemacht: „Warum habe ich bloß mit der ersten Flasche angefangen?” Sie war nur einmal in meiner Beratung und gab mir irgendwann eine Rückmeldung, dass sie meine Tipps gut umsetzen konnte und in der Zwischenzeit wieder voll stillen kann.

Das ist wirklich bewegend und auch ermutigend!

Lohmeier: Ja, es ist sehr schön so eine Rückmeldung zu bekommen.

Liebe Frau Glaß, was hat Ihre Patientinnen veranlasst, sich mit einem Relaktationswunsch an Sie zu wenden?

Glaß: Es gibt die unterschiedlichsten Geschichten und Beweggründe, ich habe schon alles Mögliche erlebt. Es kann vorkommen, dass eine Frau wegen anfänglicher Probleme oder widriger Umstände (z.B. aufgrund einer Trennung vom Kind) abgestillt hat oder weil ihr dazu geraten wurde, nach dem Motto, das bringe doch alles nichts, Stillen sei viel zu aufwendig. Dann merkt sie allerdings, dass Nichtstillen auch aufwendig ist, und bereut im Nachhinein, dass sie abgestillt hat. Manche stillen im frühen Wochenbett ab und merken vielleicht zwei Wochen später, dass sie damit doch unglücklich sind. Es gibt Frauen, die mit wenige Wochen alten Babys kommen, bei anderen sind die Babys schon mehrere Monate alt.

Baby schreit an der Brust
Stillen erscheint am Anfang oft viel zu schwierig, sodass sich viele Mütter zunächst dagegen entscheiden (© Kanstantsin Prymachuk)

Auch das Adoptivstillen (sog. induzierte Laktation) kann man mitunter unter die Relaktation fassen. Ich habe schon drei Fälle aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gehabt, wo die eine Mutter das Kind bekommen hat, aber die andere es (auch) stillen wollte. Auch das kommt vor, gar nicht so selten.

Wie waren eigentlich die Verläufe bei Ihren Relaktationen? Funktioniert sie immer? Gibt es auch Rückschläge?

Glaß: Rückschläge gibt es immer. Eine Relaktation geht seltenst völlig glatt. Bei manchen Frauen fängt es schwierig an, bei anderen geht es glatt los und wird dann später, nach 2-3 Wochen erst schwierig. Das ist ganz normal. Prinzipiell sind Relaktation und induzierte Laktation einfacher bei Müttern, bei denen die Brust schon Milch produziert hat. Ich hatte eine Mutter mit einem zwei Monate alten Säugling, der mehrere Wochen nicht an der Brust gewesen war, und die Mutter innerhalb von wenigen Wochen voll stillen konnte bis nach seinem ersten Geburtstag. Das war eine außergewöhnlich unkomplizierte Relaktation. Diese Mutter hatte ihr älteres Kind ja auch schon gestillt, was sich allerdings sehr schwierig gestaltete, und sie stillte ursprünglich auch ihr zweites Kind, bis sie es aufgrund der Schwierigkeiten zunächst aufgab. So war die Frau schon in der Laktation gewesen. Bei Frauen, bei denen die Brust noch nie eine Schwangerschaft durchgemacht hat, kommen wir eigentlich nie zum Vollstillen, trotz medikamentöser Unterstützung. Der Verlauf hängt auch vom Alter des Babys ab: je jünger das Baby, desto mehr Zeit hat man auf längere Sicht und desto ausgeprägter ist das Saugbedürfnis. Das Saugbedürfnis eines 9 Wochen alten Kindes ist ja durchaus ein anderes als das eines 9 Monate alten Kindes. Der Verlauf hängt also von der Ausgangssituation und von Gegebenheiten ab, die wir wenig oder gar nicht beeinflussen können.

Spielt es für den Erfolg einer Relaktation eine Rolle, ob die Frau mithilfe von Medikamenten abgestillt hat oder ohne?

Glaß: Nein, das spielt meiner Erfahrung nach keine Rolle. Man muss natürlich bedenken, dass das Medikament, das klassischerweise zum Abstillen verschrieben wird, eine sehr lange Halbwertszeit (68 Stunden) hat. Das heißt, bei Frauen, die sehr kurz nach dem medikamentösen Abstillen relaktieren möchten, wirkt sich das Medikament am Anfang noch auf die Milchbildung aus. Aber man kann trotzdem gleich wieder mit der Relaktation anfangen. Das geht auch.

Welche Voraussetzungen sollte die Frau mitbringen, wenn sie sich zu einer Relaktation entschließt?

Lohmeier: Es ist wichtig, dass die Frau einen großen Stillwunsch hat und auch bereit ist, viel Zeit zu investieren. Die Relaktation ist schon recht zeitintensiv am Anfang, wenn man die Milchbildung wieder hochfahren möchte. Im Erstgespräch informiere ich daher die Frauen zunächst über die Vorgehensweise und den Aufwand, damit sie wissen, worauf sie sich einlassen. Ich bitte sie anschließend, noch einmal darüber zu schlafen: Sind sie wirklich bereit, bzw. ist es ihnen überhaupt möglich, so viel Zeit zu investieren, gerade wenn noch z.B. ältere Geschwisterkinder da sind oder die Frau vielleicht auch noch berufstätig ist. Wenn die Frau sagt, ich möchte unbedingt stillen, ich bin bereit alles dafür zu tun, dann können wir natürlich gleich starten. Aber manche Frauen sind noch am Überlegen. Manchmal ist es gar nicht in erster Linie die Mutter, die unbedingt wieder stillen möchte, sondern es drängt sie eher der Partner oder das Umfeld dazu. Es ist wichtig, dass die Frauen Klarheit darüber bekommen, was sie selber eigentlich wollen – denn sie sind es, die das Kind stillen.

Die psychische Unterstützung durch den Vater und das weitere familiäre Umfeld ist bei einer Relaktation besonders wichtig. (© Olga Dmitrieva)
Die psychische Unterstützung durch den Partner und das weitere Umfeld ist bei einer Relaktation besonders wichtig. (© Olga Dmitrieva)

Darüber hinaus ist auch die psychische Unterstützung sehr wichtig. Ich empfehle den Frauen immer eine Stillgruppe in Wohnortnähe zu suchen, um sich dort Rückendeckung zu holen. Wenn die Frau in ihrem Umfeld keine Unterstützung erhält, hat sie es nicht einfach. Bemerkungen wie „Mache es dir doch nicht so schwer, du setzt dich doch selber unter Druck” oder „Gib ihm doch einfach die Flasche und finde dich mit der Situation ab” sind sehr entmutigend. Es ist daher sehr wichtig, dass die Frau psychisch gestärkt wird und Rückendeckung erhält. Glaß: Auch aus meiner Sicht ist die psychische Unterstützung sehr wichtig, wie auch beim Stillen allgemein. Bei dem anspruchsvollen Weg einer Relaktation ist die positive Einstellung des Partners und des Umfelds aber besonders wichtig. Wir betreuen die Frauen natürlich auch, wenn sie in ihrem Umfeld keine Unterstützung erhalten, aber für die Frauen erschwert das die Situation. Auch mir ist es außerdem wichtig, dass die Frauen wissen, worauf sie sich einlassen – dass sie etwas erreichen möchten, was nicht an einem Wochenende zu bewerkstelligen ist: Eine Relaktation geht selten nebenbei. Außerdem ist es wichtig, dass die Frauen sich überlegen, ob sie unbedingt voll stillen wollen. Denn es gibt keine Garantie, dass die Brust noch mal aufs Vollstillen-Niveau kommt. Mir ist auch wichtig, dass es der Frau bewusst ist, dass Stillen mehr als Ernährung ist: Stillen bedeutet auch Bindung und Nähe. Auch wenn Vollstillen nicht erreichbar ist: Jegliche Muttermilch ist wertvoll.

kleiner Plastik-Becher mit Milch
Wenn jemand anders das Baby füttert, kann z.B. ein Trinkbecher verwendet werden.

Was empfehlen Sie den Frauen, wenn Vollstillen nicht realisierbar ist: Wie soll am besten zugefüttert werden? Geht es auch mit der Flasche?

Glaß: Nein. Künstliche Sauger sind per se eine Gefahr fürs Stillen und sollten bei einer Relaktation möglichst wenig zum Einsatz kommen. Ich empfehle bei einer Relaktation die Zufütterung an der Brust. Wenn das Kind von jemand anders zugefüttert wird, dann kann dies z.B. gut über einen Becher geschehen.

Welche Hilfsmittel braucht man für eine Relaktation?

Ernährungssonde (dünner, weißer Schlauch) ein eine Spritze gesteckt.
Zur Relaktion braucht man ein Set zur Zufütterung an der Brust, wie z.B. eine Ernährungssonde mit Spritze

Lohmeier: Eventuell eine Milchpumpe und ein Set zur Zufütterung an der Brust.

Die Milchpumpe kann man sich ausleihen, oder?

Lohmeier: Ja, die meisten Frauen leihen die Milchpumpe aus. Viele kriegen die Kosten für die Pumpe auch über die Krankenkasse erstattet. Es kommt auch auf das Alter des Kindes und die Indikation an, manche Krankenkassen sind da durchaus kulanter als andere. Auch da investieren die Frauen unter Umständen Zeit, wenn sie sich mit der Kasse auseinandersetzen müssen oder zunächst einmal einen Arzt finden müssen, der ein Rezept ausstellt.

Kann man bei einer Relaktation die Milch auch manuell, also ohne Milchpumpe gewinnen?

Glaß: Ich kenne hier keine Frau, die eine Relaktation freiwillig ohne Pumpe hätte machen wollen, deshalb habe ich bislang noch keine Relaktation ohne Pumpe betreut. Hier in Deutschland ist die Verfügbarkeit von modernen Pumpen sehr gut. Es gibt aber Länder, die keine Pumpen zur Verfügung haben und vielleicht nicht mal Strom haben. In diesen Ländern gewinnen die Mütter den gesamten Milchbedarf ihres früh- oder krank geborenen Kindes von Hand und sind dabei genauso schnell und effektiv. Bei Frauen, die nicht gerne oder gut pumpen, kann die Handgewinnung sogar effektiver sein. Besonders für kleine Mengen ist die Handgewinnung günstiger, da die wenigen Tropfen in einer Pumpe verloren gehen. Beim Kolostrum z.B., also der Anfangsmilch, ist die Handgewinnung aus diesem Grund auf alle Fälle besser.

Das sind sehr interessante Aspekte. Wer kann die Mütter am besten bei der Relaktation beraten?

Lohmeier: Aus meiner Sicht ganz klar, die IBCLCs. Das sind einfach die Fachfrauen für das Stillen schlechthin. Man findet sie im Internet auf den entsprechenden Seiten (www.bdl-stillen.de/stillberatungsuche.html, http://www.stillen.de/laktationsberatung-finden), jetzt auch im Still-Lexikon (https://verzeichnis.still-lexikon.de). IBCLCs sind in vielen Berufsgruppen zu finden: Hebammen, Kinder-/Krankenschwestern und ÄrztInnen oder ApothekerInnen haben diese Weiterbildung absolviert. Es gibt derzeit etwa 1240 IBCLCs in Deutschland.

Sind alle IBCLCs gleichermaßen dafür qualifiziert?

Lohmeier: Nein, sicherlich nicht. Es gibt viele IBCLCs, die überwiegend oder ausschließlich in der Klinik arbeiten oder Stillgruppen leiten. Nicht jede Kollegin hat Erfahrung mit der Relaktation, aber dann kennt sie mit Sicherheit eine Kollegin, die darin Erfahrung hat, und kann an die Kollegin weiterverweisen. Glaß: Ja, die Relaktation ist ein sehr spezielles Thema. Wenn eine IBCLC auf einer Wöchnerinnen-Station arbeitet, hat sie einen ganz anderen Schwerpunkt. Sicherlich gibt es auch Stillberaterinnen, die keine IBCLC sind und sich sehr gut damit auskennen. Ich persönlich habe sehr viel von einer AFS-Stillberaterin gelernt, die mich bei meinen ersten Fällen beraten hat. Ich gehe davon aus, dass es auch bei der La Leche Liga einige Stillberaterinnen gibt, die sich damit gut auskennen. Aber ich weiß nicht, ob dieses spezielle Thema in den Curricula der ehrenamtlichen Stillberaterinnen erschöpfend abgedeckt wird. Wenn eine Mutter sich mit dem Wunsch einer Relaktation an eine Stillberaterin wendet, welche sich damit nicht auskennt oder keine Zeit hat, dann verweist sie diese sicherlich an eine Kollegin weiter, die das übernehmen kann.

Idealerweise findet man eine IBCLC mit entsprechender Erfahrung in Wohnortnähe, aber nicht jede Mutter mit Relaktationswunsch hat dieses Glück. Funktioniert eine Beratung zur Relaktation auch über weitere Entfernungen?

stillende Mutter telefoniert
Ein persönliches Gespräch mit der Laktationsberaterin ist das Minimum. Den Rest kann man auch telefonisch klären. (© Anna Lurye)

Lohmeier: Ja, auch das kann funktionieren. Ich hatte schon oft Frauen betreut, die ich nur einmal persönlich besucht und ansonsten telefonisch beraten habe. Aber ich denke, ein Besuch bei der Frau ist das Minimum, damit ich das Anlegen und den Stillvorgang beobachten kann, oder die Brust mal gesehen und abgetastet habe. Den Rest kann man durchaus auch mit regelmäßigen Telefonaten oder ggf. Skypen hinkriegen.

Das heißt, wenn eine Frau keine IBCLC in der Nähe findet, dann sucht sie die nächste Beraterin mit entsprechender Erfahrung, damit mindestens ein persönliches Treffen zustande kommen kann. Den Rest kann sie mit der Beraterin per Telefon und anderen technischen Hilfsmitteln besprechen.

Lohmeier: Genau.

Lassen Sie uns jetzt über die Kosten der Relaktation sprechen. Wir haben bereits festgehalten, dass die Frau eventuell eine elektrische Doppelmilchpumpe und ein Set zur Zufütterung an der Brust braucht. Mit welchen Honorarkosten für die Beratung sollte sie rechnen?

Lohmeier: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt keinen einheitlichen Honorarsatz bei uns IBCLCs. In unserer Region kenne ich zwischen 50 und 80 € für einen Besuch sowie alle weiteren folgenden Telefonate oder Fragen, die sich in Zusammenhang damit ergeben. Glaß: Es gibt darüber hinaus auch regionale Unterschiede. In strukturschwachen Gebieten sind die Honorare sicherlich niedriger. In Großstädten wie Berlin oder München können die Honorare auch 90-100 € betragen. Die Höhe des Honorars hängt also von der Region und der Beraterin ab. Lohmeier: Den Frauen, denen das zu viel erscheint, kann man aber bewusst machen, was künstliche Säuglingsmilch für ein halbes Jahr kostet. Da ist man locker bei 750 € für 6 Monate angelangt. Das heißt, diese Kosten kommen auf die Frauen zu, wenn sie sich gegen das Stillen entscheiden. Schön wäre es selbstverständlich, wenn die Krankenkassen die Kosten für die Stillberatung übernehmen. Still- und Laktationsberatung ist eine präventive Leistung für die Gesundheit, die ein Leben lang wirkt. Aber da muss die Politik noch viel mehr Informationen bekommen, wie wichtig das Stillen ist, wie präventiv es wirken kann. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir irgendwann, vielleicht in 5 bis 10 Jahren erreicht haben, dass die Krankenkassen die Leistung von Still- und Laktationsberaterinnen übernehmen und dass die Frauen die Beratung und Begleitung nicht mehr selber zahlen müssen.

Euroscheine
Die Laktationsberatung ist zwar kostenpflichtig – durch das zunehmende Stillen spart man aber die Kosten der künstlichen Säuglingsnahrung

Ja, es wäre schön, wenn die Krankenkassen die Beratungskosten übernehmen würden. Werden die Kosten in der Regel pro Stunde oder pro Beratung berechnet? Was decken sie genau ab?

Glaß: Die meisten Beraterinnen, die ich kenne, berechnen das Honorar für eine Beratung und nicht pro Stunde. Das heißt, das Honorar deckt realistischerweise mindestens 90 Minuten Beratung ab, denn die anschließenden Telefonate und E-Mails fallen mit rein. Wir tauschen uns bei einer Relaktation nach der persönlichen Beratung noch mindestens dreimal telefonisch oder per Mail aus. Bei größeren Entfernungen wird die Anfahrt zusätzlich berechnet. Manchmal sind auch mehrere Besuche notwendig. Ich nehme für einen Zweitbesuch allerdings nicht mehr den vollen Satz und der Zweitbesuch ist meistens auch kürzer. Es gibt Kolleginnen, die die anschließenden Telefonate extra berechnen, aber zumindest ein Gespräch müsste noch mit drin sein.

Jetzt kommen wir zur Methodik: Wie geht man bei einer Relaktation eigentlich vor?

Lohmeier: Es gibt im Wesentlichen zwei Herausforderungen: Erstens muss man die Milchmenge steigern und zweitens das Baby wieder an die Brust bekommen. Ich schaue zunächst, wie oft das Kind noch angelegt wird, wie viel Milch noch da ist. Die Steigerung der Milchmenge geschieht durch die häufige Entleerung der Brust. Ich empfehle den Frauen, die Brust mindestens 8- bis 12-mal am Tag zu entleeren. Falls es nicht möglich ist, das Kind entsprechend lang und häufig anzulegen, dann sollte die Mutter möglichst mit einem Doppelpumpset pumpen. Es reicht, wenn die Frau 8- bis 12-mal am Tag für 15 bis 20 Minuten pumpt. Dabei ist es hilfreich zu verstehen, dass die Brust niemals wirklich leer ist wie eine Flasche leer sein kann, da die Brust die Milch ja ständig nachproduziert. Es ist nach dem Entleeren immer noch ein bisschen Milch drin und dann noch ein Tröpfchen und noch ein Tröpfchen … Die zweite Aufgabe ist es, das Baby wieder an die Brust zu bekommen. Manche Babys wissen gar nicht mehr, was sie mit der Brust anfangen sollen. Ganz kleine Babys kann man durch die so genannte Saugdeprivation wieder an die Brust heranführen. Dabei bekommen die Kinder über 48 Stunden lang nichts zum Saugen – keine Flasche, keinen Schnuller, keinen Finger der Mutter oder des Vaters, kein Stillhütchen, nichts – und sie kriegen in diesen zwei Tagen sämtliche Nahrung nur mit dem Becher oder dem Löffel gefüttert. Die Brust darf aber jederzeit angeboten werden. Das Saugbedürfnis ist ein Grundbedürfnis im Säuglingsalter. Daher fangen alle Kinder in diesen 48 Stunden an, an allem zu saugen, was ihnen angeboten wird und daher auch an der Brust. Ich habe mit dieser Methode bislang jedes gesunde Kind unter etwa 12 Wochen wieder an die Brust zurückbekommen.

stillende Mutter - Baby trinkt am Sondenschlauch
Bei einer Relaktation ist es besonders wichtig, das Baby an der Brust zuzufüttern. (© Rebdesign)

Wenn die Milchmenge noch gering ist, hört das Kind schnell wieder auf an der Brust zu saugen. Um das Kind an der Brust zu halten, wird es an der Brust zugefüttert. Dazu wird eine dünne Ernährungssonde (auch Magensonde oder Nahrungssonde genannt) an die Brustwarze geklebt. Während das Kind an der Brust saugt, erhält es die Milch aus dem Schlauch. Die Mutter kann mithilfe einer Spritze die zugefütterte Mutter- oder Säuglingsmilch dosieren. Dadurch hat die Mutter sozusagen die Hoheit darüber, ob Milch fließt und wenn ja wie viel und wie schnell. Auf diese Weise kann sie dem Kind dann Milch geben, wenn es effektiv saugt. So wird das Kind belohnt und bekommt Lust, an der Brust mehr, länger und häufiger zu trinken. Man kann zur Zufütterung an der Brust auch ein Brusternährungsset verwenden, das ist aber etwas teurer als die Sonde. Hinzukommt, dass man mit dem Brusternährungsset kein Saugtraining machen kann, denn die Milch fließt immer: je nachdem wie hoch die Flasche hängt, schneller oder langsamer.

Frau Glaß, welche Methoden verwenden Sie, damit die Frauen wieder stillen können?

Glaß: Wie schon Frau Lohmeier gesagt hat, müssen wir erstens an der Milchbildung arbeiten und zweitens das Kind an die Brust kriegen. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen und sehr viele Faktoren, die wir berücksichtigen müssen. Es gibt eine Vielzahl von Methoden und sehr individuelle Wege. Zunächst müssen wir schauen, wo unser Startpunkt ist. Hat die Frau schon einmal gestillt? Wie erfahren ist sie beim Stillen? Hat sie noch eine Restproduktion Milch oder nicht? Wie viel muss ich zusätzlich pumpen? Braucht die Mutter eine medikamentöse Unterstützung? Das heißt, ich muss gucken, was brauche ich, um bei dieser speziellen Frau die Milchbildung anzuregen.

streikendes Baby an der Brust
Bei manchen Babys muss man zunächst damit anfangen, sie in eine Stillposition zu bringen (© reana)

Auch beim Kind muss ich schauen. Hat es schon mal gestillt, oder nicht? Nimmt es die Brust überhaupt noch? Lässt es sich in eine Stillposition bringen oder verweigert das Kind sogar schon die Stillposition? Es gibt Kinder, die ich gar nicht an die Brust legen kann, geschweige denn, dass es die Brust nimmt. Da müssen wir zunächst damit anfangen, das Kind in eine Stillposition zu bringen. Mir ist wichtig zu betonen, dass die Relaktation ein sehr individueller Weg ist, abhängig von den Gegebenheiten, die man vorfindet.

Arbeiten Sie auch mit der Sonde am liebsten?

Glaß: Ich arbeite meist mit dem Brusternährungsset. Ich finde, jeder hat das Recht auf eine bevorzugte Methode. Auch die Mutter muss die verschiedenen Möglichkeiten kennen und ausprobieren können, was für sie am besten ist. Wenn sie eine Methode bevorzugt, dann unterstütze ich sie bei dieser Methode.

Wie lange dauert es, bis die Mutter wieder voll stillen kann?

Lohmeier: Wochen bis Monate. Glaß: Wobei wir ja nicht in jedem Fall zum Vollstillen übergehen können.

Kann man die Milchbildung mit Stilltee, pflanzlichen Mitteln oder Medikamenten unterstützen?

Glaß: Stilltees bringen gar nichts. Ich empfehle sie nie. Die Mutter darf sie natürlich gern trinken, wenn der Tee ihr schmeckt. Es gibt die pflanzliche Unterstützung, klassischerweise die Bockshornkleesamen, die nachgewiesenermaßen milchbildungssteigernd wirken und die man rezeptfrei in der Apotheke kaufen kann. Dann gibt es noch die Möglichkeit des verschreibungspflichtigen Domperidons. Sowohl die pflanzliche als auch die medikamentöse Unterstützung kann beim Aufbau der Milchmenge hilfreich sein. Aber man muss dazu wissen, dass die medikamentöse Unterstützung nur eine Maßnahme unter vielen ist. Es ist nicht so, dass ich die Dinger einfach einwerfe, und dann spritzt die Milch. Ohne professionelle Stillberatung, ohne das Pumpen oder das Kind, das vernünftig an der Brust saugt, geht es nicht. Lohmeier: Auch ich empfehle gerne die Bockshornkleesamen-Kapseln. Wenn die Frau einen zu geringen Prolaktin-Spiegel hat, kann man diesen z.B. mit Domperidon oder Metoclopramid (MCP) noch ein bisschen steigern – unter ärztlicher Begleitung selbstverständlich. Mit der medikamentösen Unterstützung kann man höhere Milchmengen erreichen und dann sind meistens auch die Kinder eher bereit an der Brust zu trinken. Bevor wir mit medikamentösen Maßnahmen anfangen, mache ich allerdings eine gründliche Anamnese und lasse auch die Blutwerte untersuchen. Dabei spielen die Schilddrüsenwerte und der Basalprolaktinwert eine Rolle. Bei einer Schilddrüsenunterfunktion bringen die Maßnahmen zur Steigerung der Milchmenge wenig. Da braucht die Frau zunächst eine Substitution von Thyroxin. Domperidon wiederum macht dann Sinn, wenn sich der Basalprolaktin-Wert eine halbe Stunde nach dem Stillen oder Pumpen nicht mindestens verdoppelt hat. Das Domperidon muss die Frau selber bezahlen, weil die Steigerung der Milchmenge als „off label use” gilt, das heißt, nicht dem zugelassenen Einsatzgebiet des Medikaments entspricht. Die Mutter kriegt das Medikament auf einem Privatrezept verordnet.

Haben die Medikamente auch Nebenwirkungen?

Glaß: Ja, Medikamente haben auch Nebenwirkungen. Aber in die Muttermilch gelangen die Medikamente, die wir zur Milchbildungssteigerung nutzen, nur in sehr geringen Mengen und haben auf das Baby keine nachteiligen Auswirkungen.

Dann wünschen wir den Frauen, die relaktieren möchten, viel Erfolg und ich bedanke mich bei Ihnen für das aufschlussreiche Interview.

 


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