Forschungsdaten: Was ist “Langzeitstillen” und wie häufig kommt es vor?

Wenn Kinder über das “übliche” Alter hinaus gestillt werden, wird von manchen der Begriff „Langzeitstillen“ verwendet. In Deutschland lag die durchschnittliche Stilldauer 2018 bei 8 Monaten (Brettschneider et al., 2018), in angelsächsischen Ländern (Großbritannien, USA, Australien) wird noch deutlich kürzer gestillt. In einer Befragung aus Deutschland von 491 Müttern wurde Langzeitstillen von den Teilnehmerinnen ab einem durchschnittlichen Stillalter von 15 Monaten (Median: 12 Monate) definiert (Koch, 2008).

Auch in der Fachliteratur gibt es keine einheitliche Definition, was unter “Langzeitstillen” („extended breastfeeding“, „long-term nursing“ „prolonged breast-feeding“, „sustained breasfeeding“) verstanden wird. Vielfach wird bereits ab dem 1. oder 2. Geburtstag von “Langzeitstillen” gesprochen. Die amerikanische Anthropologin Katherine A. Dettwyler (2004) definiert “Langzeitstillen” allerdings erst ab dem 3. Geburtstag, also ab dem heutigen Kindergartenalter. Denn entsprechend ihren Forschungsarbeiten ist eine Stilldauer zwischen 2,5 und 7 Jahren die physiologische, artspezifische Norm für uns Menschen, d.h. Menschenkinder brauchen und erwarten eine solche Stilldauer. 2,5 Jahre betrachtet sie als das Minimum des normalen, physiologischen Stillalters.

In Jäger- und Sammler-Gesellschaften lag das typische Abstillalter zwischen dem 2. und 4. Geburtstag. Abstillen fand üblicherweise während der Schwangerschaft mit dem nächsten Kind statt. Gab es keine weitere Schwangerschaften mehr, konnte das Stillen länger als 5 Jahre andauern, in Einzelfällen sogar 8 Jahre und länger. Bei den meisten sesshaft lebenden, agrikulturellen Populationen verkürzte sich die Geburtenfolge auf 2-3 Jahre, Abstillen fand meist im 2. Lebensjahr statt (Hewlett, 2017). Das Abstillalter lag in den meisten vorindustriellen Gesellschaften (inklusive sesshafter, landwirtschaftlicher Gesellschaften, Jäger- und Sammlergesellschaften und gemischten Gesellschaften) zwischen 1 und 5,5 Jahren, mit einem Peak um 2,5 Jahren (Selen, 2001). Aus dem frühmittelalterlichen Bayern liegen auch Daten zur Stilldauer vor – anhand einer Zahnanalyse wurden Kinder durchschnittlich 3 Jahre lang gestillt.

Wie viele “langzeitgestillte” Kinder gibt es?

Anhand einer repräsentativen Studie in Deutschland werden 16% der Kinder länger als 12 Monate gestillt (Brettschneider et al., 2018). Repräsentative Daten, wie viele Kinder länger als 2 bis 3 Jahre gestillt werden, gibt es keine. Hinzukommt, dass länger stillende Mütter ab einer gewissen Stilldauer nicht mehr erzählen, dass die Stillbeziehung fortgesetzt wird. Die Frauen sind – oft berechtigterweise – besorgt, dass sie Unverständnis ernten, zum Abstillen gedrängt und im schlimmsten Fall sogar angezeigt werden (Sinnott, 2010). Die weit verbreitete Auffassung in der westlichen Kultur, dass die Brust einer Frau Sexobjekt ist, führt immer wieder zu Anklagen gegenüber langzeitstillenden Frauen. In den USA werden schätzungsweise 8 bis 10 Fälle jährlich verhandelt (Dettwyler, 2005).

Diagramm mitHäufigkeit von Langzeitstillen Dettwyler
Dettwyler hat die Stilldauer bei 1280 mind. 3 Jahre lang gestillten Kindern erfasst. Das durchschnittliche Abstillalter in der Stichprobe lag bei 4,2 Jahren. Die längste Stilldauer betrug 9,2 Jahre. Von den 1280 Kindern wurden 43 länger als 7 Jahre, und 5 länger als 9 Jahre gestillt. Kinder, die sich von alleine abstillten, endeten die Stillbeziehung durchschnittlich mit 4,4 Jahren. (nach Dettwyler, 2005; © still-lexikon.de)

Dennoch gibt es Anhaltspunkte über die Häufigkeit des “Langzeitstillens”. Die DONALD-Studie – eine nicht repräsentative Langzeitstudie aus Dortmund über Ernährung, Entwicklung und Stoffwechsel von Kindern und Jugendlichen – erhebt auch Daten zum Stillen. Unter den Müttern, die in die Studie eingeschlossen wurden, stillten mit 12 Monaten 21%, mit 24 Monaten noch 2,3% (Foterek et al., 2014). Die Stillraten dürften in der DONALD-Studie jedoch zu hoch ausfallen, u.a. weil die eingeschlossenen Mütter über eine überdurchschnittlich hohe Bildung verfügen.

Diagramm Langzeitstillen Sinnott
Eine noch größere Erhebung stammt von Sinnott, die über das Internet weltweit insgesamt 2149 Mütter befragte, die ein Kind mind. 3 Jahre lang stillten. 122 Kinder (knapp 6%) wurden über 7 Jahre gestillt, 3 Kinder sogar über 11 Jahre. (nach Sinnott, 2010; © still-lexikon.de)

Darüber hinaus haben Dettwyler (2005), Gribble (2010) und Sinnott (2010) Daten über Langzeitstillen erhoben. Zwar sind auch diese Daten nicht repräsentativ und können keine absoluten Zahlen liefern, aber sie können über die relativen Häufigkeiten eine vage Auskunft geben. Bei Dettwyler und Sinnott stillten mit 6 Jahren nur noch etwa ein Sechstel derjenigen Kinder, die noch mit 3 Jahren stillten, bei Gribble stillten ein Sechstel der 6-jährigen, die noch im Alter von 2 Jahren stillten. Sinnott gibt zu bedenken, dass die Stillraten mit zunehmendem Alter eher unterrepräsentiert sind, da sich die Frauen mit zunehmender Stilldauer weigern, darüber noch Auskunft zu geben – aus Angst, dass sie stigmatisiert oder angezeigt werden. Gehen wir jedoch davon aus, dass die Größenordnung bei den genannten Studien stimmt, dann wird in Deutschland von 1000 Erstklässlern etwa einer noch gestillt.

Die Häufigkeitsverteilung ist natürlich ungleichmäßig. Wie Dettwyler anhand ihrer Erhebung in den USA feststellte, gab es über das ganze Land verteilt einzelne Frauen, die ihre Kinder viele Jahre stillten. Zusätzlich gab es in verschiedenen Regionen jedoch noch Agglomerationen von langzeitstillenden Frauen, die sich über Netzwerke – wie Langzeitstillgruppen – gegenseitig unterstützten (Dettwyler, 2004). In diesen Regionen werden langzeitgestillte Kinder öfter angetroffen.

Quellen:

  • Brettschneider AK, von der Lippe E, Lange C: Stillverhalten in Deutschland – Neues aus KiGGS Welle 2. Bundesgesundheitsbl 2018;61:920–925.
  • Dettwyler KA: When to wean: Biological versus cultural perspectives. Clinical Obstetrics and Gynecology 2004;47(3):712-713.
  • Dettwyler KA: Beauty and the breast. In: Breastfeeding: Biocultural Perspectives. Stuart-Macadam P, Dettwyler KA (Hrsg.) 1995.
  • Dettwyler KA: Breastfeeding Court Letter. 2005. https://bhaktibirth.wordpress.com/2010/07/09/breastfeeding-court-letter-by-katherine-a-dettwyler-ph-d-anthropology/, Seite besucht am 24.5.2016.
  • Foterek K, Hilbig A, Alexy U: Breast-feeding and weaning practices in the DONALD study: Age and time trends. JPGN 2014;58:361-367.
  • Gribble K: Long-term breastfeeding; changing attitudes and overcoming challenges. Breastfeed Rev 2008;16(1):5-15.
  • Hewlett BS: Hunter-Gatherer Childhoods: Evolutionary, Developmental, and Cultural Perspectives. Routledge, 2017
  • Koch U: Langzeitstillen – Studie über das Stillen von Kleinkindern in Deutschland. 2008, Diplomarbeit, Hochschule Ulm, Fachbereich Informatik
  • Selen DW: Comparison of infant feeding patterns reported for nonindustrial populations with current recommendations. J Nutr 2001; 131:2707-2715.
  • Sinnott A: Breastfeeding older children. Free Association Books, 2010.
  • Velte M, in: Mensch, bist du groß geworden. Jacob Wetzel, Die Süddeutsche; 30. Juli 2022

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